Ein historischer Höchststand beim Krankenstand in Deutschland sorgt für Diskussionen: Laut einer aktuellen Studie der DAK-Gesundheit sowie Einschätzungen der Bundesärztekammer ist die Zahl der Krankheitstage im Vergleich zu den Vorjahren sprunghaft gestiegen. Im Jahr 2023 fehlten Beschäftigte durchschnittlich an 15,1 Tagen – bei Versicherten der DAK sogar an rund 20 Tagen pro Jahr.
Doch warum melden sich hierzulande mehr Beschäftigte krank als in anderen Ländern? Und bringt die Debatte um einen Karenztag neuen Schwung in die arbeitsrechtliche Diskussion?
Elektronische Krankmeldung (eAU) sorgt für vollständige Erfassung
Ein zentraler Faktor: Seit der Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) im Jahr 2021 werden erstmals alle Krankschreibungen lückenlos dokumentiert.
Früher landete der „gelbe Schein“ für die Krankenkasse oft nicht beim Versicherer, sondern nur beim Arbeitgeber. Das führte zu einer Untererfassung in den Statistiken der Krankenkassen. Ärztepräsident Klaus Reinhardt bestätigte diesen Effekt: Die eAU sorgt heute für eine vollständige, transparente Erfassung aller Fälle, was den statistischen Anstieg in Teilen erklärt.
Laut DAK entfällt je nach Diagnosebereich bis zu 60 Prozent des Anstiegs der Fehltage auf diesen sogenannten „Meldeeffekt“.
Mehr Infektionen nach der Pandemie
Neben der besseren Erfassung sorgt auch eine veränderte Krankheitslage für steigende Fehlzeiten:
✔ Stärkere Erkältungswellen – das Immunsystem vieler Menschen ist durch Pandemie-Maßnahmen „aus der Übung“.
✔ Anhaltende Corona-Infektionen sowie Long-COVID-Fälle belasten weiterhin die Arbeitswelt.
Nach Einschätzung der DAK-Gesundheit ist rund ein Drittel der zusätzlichen Fehltage direkt auf vermehrte Infektionen zurückzuführen.
Pflicht zur Krankschreibung ab dem ersten Tag als Treiber?
In Deutschland verlangen viele Arbeitgeber bereits am ersten Krankheitstag eine ärztliche Bescheinigung – anders als in Ländern wie Schweden oder Großbritannien, wo erst ab dem dritten Tag ein Nachweis notwendig ist.
Das bestätigt auch Klaus Reinhardt: Viele Patienten kommen in seine Praxis, obwohl sie sich nur leicht krank fühlen, weil der Arbeitgeber eine Bescheinigung fordert. Diese Praxis trage dazu bei, dass die Zahl der ausgestellten Krankmeldungen steigt – unabhängig von der Schwere der Erkrankung.
Debatte um Karenztag: Wirtschaft fordert Reformen, Gewerkschaften warnen
Vor diesem Hintergrund forderte der Vorstandsvorsitzende der Allianz-Versicherung, Oliver Bäte, kürzlich die Einführung eines Karenztags, also den Wegfall der Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag – ein Modell, das es in Ländern wie Dänemark oder der Schweiz bereits gibt. Ziel: Weniger „Blaumacher“ und geringere Fehlzeiten.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) lehnt dies strikt ab: Ein Karenztag führe dazu, dass auch kranke Menschen zur Arbeit kommen – mit dem Risiko von Ansteckungen und Fehlern, insbesondere in sicherheitsrelevanten Bereichen.
Hoher Krankenstand – typisch Deutschland?
Im internationalen Vergleich liegt Deutschland beim Krankenstand über dem Durchschnitt. Gründe sind neben der vollständigen Erfassung durch die eAU auch kulturelle und rechtliche Faktoren:
✔ Anspruch auf Lohnfortzahlung ab dem ersten Krankheitstag – anders als in vielen anderen Staaten.
✔ Dichtes Gesundheitssystem mit niedrigschwelligen Arztbesuchen.
✔ Sicherheits- und Fürsorgepflichten der Unternehmen, die striktere Nachweise fordern.
Was bedeutet das für Arbeitgeber?
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Steigende Ausfallzeiten erhöhen die Anforderungen an Vertretungs- und Einsatzplanung.
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Verlässliche Datenlage durch eAU kann helfen, präventive Maßnahmen (z. B. Gesundheitsmanagement) gezielter zu steuern.
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Die Diskussion um einen Karenztag zeigt: Unternehmen sollten prüfen, ob innerbetriebliche Regelungen angepasst werden können – z. B. Vertrauensarbeitszeit bei leichten Erkrankungen oder digitale Krankmeldungen.
Fazit: Eine Frage der Balance
Die aktuelle Entwicklung zeigt: Ein höherer Krankenstand ist nicht automatisch ein Zeichen für „Blaumachen“, sondern Ergebnis besserer Erfassung und realer Infektionslage.
Die Herausforderung liegt für Arbeitgeber darin, Ausfälle vorausschauend zu managen und gleichzeitig eine gesundheitsfördernde Unternehmenskultur zu wahren – ohne Misstrauen oder Überregulierung.